Am Samstag, den 04.07.2020 folgten ca. 100 Menschen dem Aufruf vom Bürger*innenasyl Münster, Seebrücke Münster, Münster Stadt der Zuflucht und uns sich an zwei Kundgebungen und einer Fahrraddemo gegen die Wiederaufnahme von Abschiebungen zu beteiligen.
Auf der zweiten Kundgebung vor der Zentralen Unterbringungseinheit am Albersloher Weg beteiligten wir uns mit einem Redebeitrag, den ihr hier nachlesen könnt:
Ausnahmezustand.
Im Zuge der aktuellen Ereignisse spricht Sven-Georg Adenauer, Landrat des Kreises Gütersloh, von einem „Ausnahmezustand, den es so noch nie gegeben hat“. Auch von Seiten der Wissenschaft wird der Begriff des Ausnahmezustands in Debattenbeiträgen zurzeit mehr oder weniger differenziert eingeworfen. Und noch in der vergangenen Woche veröffentlichte die SZ eine Reportage über den „Alltag im Ausnahmezustand“, während andere Leitmedien ihre Dossiers zum Thema der COVID-19-Pandemie unter demselben Schlagwort zusammenfassen.
Was hier oft verkürzt als „Corona-Ausnahmezustand“ geframet wird, birgt in sich eine problematische Tradition politischer Praxis, die wir hinterfragen sollten. Natürlich kommen wir heute in erster Linie mit einer Kritik an der deutschen Asylpolitik und klagen die inhumanen Zustände an, denen Geflüchtete in Sammeleinrichtungen wie der ZUE Münster ausgesetzt sind.
Aber zugleich versuchen wir, die Logik des zugrundeliegenden politischen Programms zu verstehen, nach dem hier Grenzen verschoben werden – nach dem nämlich die Pandemie benutzt wird, um weitgehend unter dem Radar die Aushöhlung von Grundrechten voranzutreiben. Denn entsprechend dem klassischen Verständnis des Ausnahmezustands können in der abgeschirmten Blackbox ZUE außerordentliche Maßnahmen getestet werden, die den gewöhnlichen Rechtsrahmen schrittweise unterlaufen.
So scheint die demokratische Grundordnung für Flüchtende in Teilen nicht zu gelten: Das sonst hochgehaltene Gesundheitsgebot des social distancing erweist plötzlich als Prinzip des gesellschaftlichen Ausschlusses, da es vornehmlich Menschen mit einem EU-Pass schützen kann. Derselbe Schutz, dasselbe Recht auf Gesundheit wird den Menschen hinter diesen Mauern vorenthalten: Nach nationalstaatlichen Kriterien aussortiert, werden sie hier sich selbst und ggf. dem Ausbruch der Krankheit überlassen. Abstandsregeln befolgen? In einem solchen Lager leider Fehlanzeige. Die eigene Wohnung nicht verlassen? Wie denn, wenn es keine Wohnung, kein sicheres Zuhause mehr gibt? Großveranstaltungen meiden? Der reine Zynismus! In der ZUE ist jeden Tag Großveranstaltung, es handelt sich um die staatlich erzwungene Inkarnation der Menschenansammlung, die den Hygienebestimmungen desselben Staates diametral widerspricht.
All dies ist skandalös genug und nicht zu tolerieren. Die Politik, die Menschen in zwei Klassen einteilt und dabei wie in einem Versuchslabor mit Formen von Entrechtung experimentiert, muss unter allen Umständen beendet werden!
Und doch erkennen wir dahinter auch einen strukturell sich verfestigenden Prozess der autoritären Formierung, den es mitzudenken gilt. Die autoritäre Formierung lebt davon,Bedrohungen heraufzubeschwören, Schreckensszenarien zu entwerfen – mit einem Wort, Ausnahmesituationen zu projizieren, die sodann eine harte law-and-order-Politik legitimieren.
Im Kontext der Lager zählt Ellwangen als beispielhafter Fall, als es nämlich vor zwei Jahren in der dortigen Erstaufnahmeeinrichtung zu einer solidarischen Abschiebeverhinderung unter Geflüchteten kam. Seehofer und die Polizei fantasierten damals von Aufstand, Gewalt und versteckten Waffen. Tatsächlich ließen sich die Vorwürfe nicht erhärten, aber es kam zu einer medienwirksamen Razzia der Unterkunft durch hunderte teils schwer bewaffnete Spezialkräfte.
Dieselbe Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen stand auch im April wieder im Fokus, als über zwei Drittel der 600 Bewohner*innen an COVID-19 erkrankte. Nun ist es nicht nur so, dass die Unterkunft nicht evakuiert wurde, obwohl sich angesichts fehlender sanitärer Standards das aggressive Virus verbreitete. Nein, vielmehr wiederholte sich das Auffahren massiver Polizeipräsenz, die die Unterkunft nach dem Motto „Keiner raus, keiner rein“ hermetisch abriegelte. Auch hier erkennen wir: Der Ausnahmezustand wird autoritär erprobt an denjenigen ohne politische Stimme.
Ellwangen ist kein Einzelfall, bundesweit wurden etliche Gemeinschaftsunterkünfte wegen Corona abgeriegelt. Betroffene erzählen, dass sich Infizierte und nicht-Infizierte weiterhin dasselbe Mehrbettzimmer teilen müssen. So ist es kaum verwunderlich, dass Berichten zufolge innerhalb der Camps Verwirrung und Frustration, Verzweiflung und Panik ausbrechen.
Fachärzt*innen zeigen sich bestürzt darüber, dass Geflüchtete dem Coronavirus hier „schutzlos ausgeliefert“ seien, und fordern eine humane dezentrale Unterbringung. Neben den körperlichen Risiken und den ohnehin verbreiteten seelischen Verletzungen in Sammeleinrichtungen warnte zuletzt eine medizinische Studie der Uni Bielefeld vor „schwere[n] psychosoziale[n] Folgen“ für die Betroffenen. Die Studie stuft das Konzept der Abriegelung auch aus ethischer Perspektive als „hoch problematisch“ ein.
Wenn Personen eingeteilt werden in eine Gruppe, die den Schutz wert ist, und eine, der das Menschenrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit genommen wird. Wenn von offizieller Seite sogar eine solch obsessive Abwehrhaltung vorherrscht, dass Gesundheitsrisiken gegenüber Flüchtenden noch mutwillig erhöht werden. Wenn bei all dem der wissenschaftliche, auch juristische und nicht zuletzt ethisch-moralische Rat der Sachverständigen schlicht ignoriert wird. Dann heißt es einmal mehr: Willkommen in Deutschland. Einem Land, das sich die Werte von Menschenwürde und Freiheit auf die Fahnen schreibt. Und mit demselben Entsetzen müssen wir wohl anfügen: Willkommen in Münster.Der Stadt, die das Label „Friedensstadt“ stolz vor sich her trägt, und auf deren Boden zugleich eine ZUE unterhalten wird, die für all diese Gewalt steht.
Vor dem Hintergrund fällt es schwer, sich die offiziell verlauteten Maßnahmen anzuhören, die in dieser ZUE allen Ernstes als konstruktives Hygienekonzept gelten sollen: Es gebe nun Desinfektionsmittel in den Sammelräumen für Dusche und WC, alle Bewohner*innen bekämen ein eigenes Stück Seife und es würden „nur“ noch bis zu vier Personen auf ein Mehrbettzimmer verteilt. Damit nicht genug: Unter dem Vorwand, die Kommunen zu entlasten, wurden die Plätze in der ZUE erweitert, um zusätzlich Menschen einzuquartieren. Es muss schon ein
teuflischer Einfall gewesen sein, diesen behördlichen Akt auch noch als „Entzerrung“ in der gegenwärtigen Situation zu verkaufen. Denn wir dürfen ja nicht vergessen: Der Sinn und Zweck dieser Einrichtung besteht darin, Abschiebungen möglichst effektiv zu gestalten, und durch die Erhöhung der Kapazität kann auch weiter an den Abschiebezahlen geschraubt werden.
Was wir demgegenüber fordern, ist ein freier Wohnraum für alle und in Menschenwürde. Wenn Hotelzimmer und Jugendherbergen in nie gekannter Zahl leer stehen, muss es die allererste Selbstverständlichkeit sein, dass dieser Raum solidarisch geteilt wird – von und mit allen Verdrängten, Wohnungssuchenden, Geflüchteten. Doch das würde dem Kosten-Nutzen-Kalkül unserer Zeit zuwider laufen, und hier schließt sich ein Kreis. Das neoliberale Politikverständnis und die damit einhergehende Ellbogengesellschaft sind ohnehin stumpf und kalt. Aber es ist wohl nur in einem zur Ausnahme erklärten Zustand möglich – wenn alle nur noch sich selbst die Nächsten sein sollen –, dass die Menschen so unverblümt nach einem Prinzip von Verwertbarkeit oder Verdrängung sortiert werden. In solch einem Moment kann Schäuble eine marktwirtschaftliche Überlegung nutzen, um ganz offen den Wert des menschlichen Lebens zu relativieren.
In solch einem Moment treten im Kreis Gütersloh dann auch Hygienebestimmungen für nicht-deutsche Erntehelfer*innen zurück und werden dem nationalen Spargelkonsum geopfert. Und in solch einem Moment wird es konsensfähig, dass die am wenigsten verwertbare Gruppe einfach weggesperrt wird, hinter Stacheldraht in eine teils verkeimte, separierte Zone. Es ist dies eine ungeheuerliche Form der Ausgrenzung, die an Maßnahmen aus dem Mittelalter erinnert und dem ach so aufgeklärten Rechtsstaat Deutschland endgültig den Spiegel vorhält.
Seiner Natur entsprechend, hatte sich der Kapitalismus die Coronakrise von Beginn an einverleibt. Und jetzt sollten wir nicht den Fehler machen, die beiden zu verwechseln. Nicht die Coronakrise ist zuallererst der Ausnahmezustand, den es zu überwinden gilt. Nein, wirkämpfen gegen die Bedingung der Möglichkeit dieser Krise, am Ende stehen wir hier zusammen gegen den menschenunwürdigen Ausnahmezustand des Kapitalismus, mit all seinen autoritären, diskriminierenden und rassistischen Begleiterscheinungen! Für uns als Bündnis kann das nur heißen: Abschiebungen verhindern! Lager brechen! Refugees welcome & bring your families!
Quellen:
– https://www.radiowaf.de/nachrichten/kreis-warendorf/detailansicht/corona-ticker-ministerpraesident-laschet-in-guetersloh.html
– https://www.spiegel.de/kultur/armin-nassehi-ueber-die-corona-pandemi-ausnahmezustand-a-00000000-0002-0001-0000-000170213716
– https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/christian-drosten-coronavirus-
pandemie-deutschland-virologe-charite/komplettansicht
– https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/308316/coronavirus-
geschichte-im-ausnahmezustand
– https://www.sueddeutsche.de/muenchen/coronavirus-muenchen-kinderbetreuung-familien-1.4942777
– https://www.tagesschau.de/faktenfinder/hintergrund/corona-chronik-pandemie-109.html
– https://www.zeit.de/thema/ausnahmezustand
– https://www.stern.de/politik/ausland/themen/ausnahmezustand-4183350.html
– https://www.tagesspiegel.de/berlin/das-neue-normal-berlin-gewoehnt-sich-an-den-corona-ausnahmezustand/25913572.html
– https://taz.de/Neuer-Blick-auf-Vorfall-in-Unterkunft/!5500584/
– https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/corona-fluechtlingsunterkunft-100.html
-https://50jahre.uni-bielefeld.de/2020/05/29/corona-hohes-risiko-fuer-gefluechtete-in-sammelunterkuenften/
-https://pub.uni-bielefeld.de/download/2943665/2943668/FactSheet_PHNetwork-Covid19_Aufnahmeeinrichtungen_v1_inkl_ANNEX.pdf
– https://www.radioq.de/2020/06/die-aktuelle-situation-von-gefluechteten/
– https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html
– https://www.medico.de/blog/operation-gelungen-patient-unfrei-17689/