Demo: Moria brennt! – Zusammenfassung und Redebeitrag

Abschlusskundgebung auf dem Prinzipalmarkt

Nach der erschreckenden Nachricht über den Brand in dem grichischen Lager für Geflüchtete versammelten sich am Mittwoch, den 09.09 bis zu 900 Menschen in der Innenstadt von Münster um für die sofortige Evakuierung des Lagers und eine radikale Kehrtwende der europäischen Asylpolitik zu demonstrieren.

Auf der Startkundgebung vor dem Bahnhof, sowie auf der Abschlusskundgebung auf dem Prinzipalmarkt wurde in mehreren Reden betont, dass es sich bei dem Brand in Moria nicht um ein alleinstehendes erschütterndes Ereignis handelt. Es ist die Konsequenz einer langanhaltenden europäischen Politik der Abschottung, Verantwortungsweitergabe und Katigorisierung nach Menschen mit und ohne Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung. Schon seit jahren wird die Schließung der Lager an den EU-Außengrenzen gefordert und auch schon vor dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie in Europa drängen verschiedenste politische Akteure auf die Evakuierung Morias.

Zwischen den beiden Kundgebungen zog der Demonstrationszug laut und kraftvoll durch die Innenstadt. Dabei schlossen sich spontan einige Passant*innen an. In kürzister Zeit haben sich so schlussendlich knapp 900 Menschen zusammengeschlossen ihre Solidarität mit den geflüchteten Menschen auszudrücken und den Verantwortlichen zu zeigen, dass ein „Weiter so“ nicht hinnehmbar ist!

Die mitgebrachten Schlider wurden vor dem Rathaus abgelegt

Auch wir haben auf der Abschlusskundgebung mit einer Rede unsere Sicht und Analyse der Geschehnisse dargelegt. Diese könnt ihr nun hier nachlesen:

Trauer und Entsetzen, das Gefühl von Hilflosigkeit – und purer Wut!

Als fühlende Menschen sind wir tief traurig angesichts einer solchen Flammenhölle, die tausenden entrechteten Menschen die allerletzten Ressourcen nimmt, ihnen höchstens noch das nackte Leben lässt. Wir sind auch entsetzt, dass sich solch ein Unheil im Jahr 2020 im vermeintlich aufgeklärten Europa ereignen kann. Schon hören wir die ersten Stimmen aus der großen Politik: So etwas dürfe sich nie wiederholen. Dies sei die letzte Warnung gewesen, um zu einer – verzeiht, wenn ich kotze – „humanitären Flüchtlingspolitik“ überzugehen. Diese betäubenden Parolen hören wir seit endlosen Jahren.

Und wenn sich dann kurz das Gefühl einstellt, dass die Kämpfe, mit denen wir diese himmelschreiende, todbringende Ungerechtigkeit immer wieder beantwortet haben, dass diese Kämpfe zu nichts führen – gerade dann ist es notwendig, dass wir uns neu austauschen, dass wir uns gegenseitig versichern, vor allem auch von Münster aus kein Recht auf Resignation zu haben. Das wäre der einfache Ausweg – uns aber führt das Gefühl von Hilflosigkeit geradewegs zu jener tiefsitzenden Wut, die die Verhältnisse nicht weiter hinnimmt.
Und genau weil wir die Verhältnisse in der Tiefe hinterfragen, ist dies keine blinde Wut. Im Gegenteil, wir versuchen immer wieder neu zu verstehen, wie die Zahnräder der Entrechtung ineinander greifen. Dabei gehen wir vor allem auch über teils kritische aber am Ende dem Mythos Europa verfallene Analysen hinaus. „Das Feuer ist eine Tragödie und trifft die Schwächsten“, titeln bereits die großen Zeitungen und fordern neue Finanz- und Kontingentangebote durch die  Bundesregierung. Dies ist zwar gut gemeint, hält aber am Ende den paternalistischen und neoliberalen Standortnationalismus unserer Zeit aufrecht. Denn erstens ist Moria keine „Tragödie“, kein tragischer Schicksalsschlag, sondern politisch provoziert und menschengemacht. Und zweitens ist die Bundesrepublik der wirtschaftliche und programmatische Motor der EU. Symbolische Hilfsangebote verbieten sich; universale Verantwortungsübernahme für das ungezählte Leid müsste das Gebot der Stunde sein.


Damit gehen wir davon aus, dass es sich bei Moria um das Resultat einer in erster Linie ökonomisch motivierten Politik handelt, die sich alles einverleiben soll und in dem Zuge eine umfassende rassistische Wirkweise entfacht – von der internationalen über die bundesdeutsche bis hin zur lokalen Ebene. Und dass diese Art der Politik über Leichen geht, kommt nicht von ungefähr, sondern ist historisch angelegt.So ist die EU als Hort von Reichtum und Macht nicht vom Himmel gefallen, sondern basiert auf Jahrhunderten kolonialer Ressourcen-Plünderung und menschlicher Ausbeutung auf anderen Kontinenten. Allein schon die Geschichte müsste echte, grenzenlose Offenheit zum europäischen Prinzip machen, gegenüber all den Menschen, denen millionenfach Ungerechtigkeit und Schmerz zugefügt wurde. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Union verhandelt heute mit afrikanischen Ländern über Freihandelsabkommen, die den EU- Mitgliedstaaten massenhaften Zugang zu neuen Märkten eröffnen und einheimischen Anbieter*innen ihre Existenzgrundlage nehmen. Weigern sich diese Länder, die ungleichen Bedingungen zu akzeptieren, wird mit Kürzung von Entwicklungshilfe gedroht. Das Primat des europäischen Wachstums lebt noch immer auf und von den Ruinen unterworfenener Erdteile, wodurch Fluchtursachen niemals bekämpft sondern immer nur weiter geschaffen werden können. Doch in einem beispiellosen Akt des Verantwortungsentzugs beauftragt die EU mit Frontex eine unabhängige Grenzschutz-Agentur, um sich selbst weiter zum Saubermann zu stilisieren. Neben einer hochgerüsteten Flotte und modernster Radar- und Waffentechnik unterhält Frontex auch eine eigene Geheimdienstabteilung, die mit den Geheimdiensten von 30 afrikanischen Staaten kooperiert, darunter sämtliche Regime, auf die landauf, landab mit dem Finger gezeigt wird – Libyen, Eritrea, Sudan, die Liste geht weiter. Heuchlerisches Outsourcing der Drecksarbeit – und feierliche Entgegennahme des Friedensnobelpreises.


Auf bundesdeutscher Ebene verlieren wir keine weiteren Worte über den Innenminister dieses Landes, das so unglaublich reich an kultureller Vielfalt ist – einen Innenminister aber, der Migration als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet und so den Rassismus schürt. (Dieses Thema wurde von der Seebrücke, IL etc. ja schon vertieft.)
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch Münster sozusagen als verlängerter Arm des Systems Moria fungiert, da auch in dieser Stadt ein Lager unterhalten wird, durch das Menschen in zwei Klassen eingeteilt werden: diejenigen außerhalb der Stacheldrahtzäune, mit Grundrechten ausgestattet – und diejenigen drinnen, deren Würde genommen, deren Stimmen unterdrückt, ja deren Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit mutwillig auf’s Spiel gesetzt wird. Die Zentrale Unterbringungseinrichtung – kurz ZUE – ist und bleibt der asylpolitische Schandfleck unserer Stadt, dessen zugrunde liegendes Prinzip rassistischer Diskriminierung sich nicht von dem der griechischen Lager unterscheidet.
Beschäftigungsverbot, Sachleistungszwang, Residenzpflicht, Aussetzung des Schulrechts für die Kinder, fehlende medizinisch-psychosoziale Betreuung, systematische Untergrabung  der Rechtsberatung. Und wie in Moria, wo das Ausbrechen der Corona-Krankheit letzter Auslöser für den vernichtenden Brand war, wurden in den vergangenen Monaten auch die deutschen Lager hermetisch abgeriegelt, sobald das Virus um sich griff. „Keiner raus, keiner rein“, hieß es in Griechenland wie in Deutschland, Hilfsorganisationen wurde durch die Polizei der Zugang versperrt und eine fassungslos machende Kollektiv-Quarantäne überließ die Menschen wie Aussätzige sich selbst. In der hiesigen ZUE wurden während der Pandemie die Plätze sogar noch erweitert, und zwar unter dem höhnischen Vorwand, die Kommunen zu entlasten. Wenn die EU stolz auf ihren Nobelpreis ist, dann dürfen wir wohl auch Münster zum Titel „Friedensstadt“ gratulieren, der der sauberen Öffentlichkeit so gern präsentiert wird – der schöne Schein dieser Auszeichnungen verdeckt die menschenverachtenden politischen Abgründe.


Eine Nobelpreisträgerin also, die mit den brutalsten Autokraten kooperiert; ein nationalistischer Innenminister; eine Friedensstadt, die auf ihrem Boden ein Lager errichtet hat. Wir müssen diese Elemente der breiteren autoritären Formierung in ihren Kontinuitäten verstehen und kritisieren – und dann erkennen wir auch: Moria ist keine griechische Tragödie! Moria ist ein Lehrstück des durchdringenden, gewaltvollen und gesamteuropäischen Zynismus, deren einzelne Glieder sich wechselseitig ergänzen und stabilisieren!


Bleiben wir also wütend!
Kämpfen wir gegen diese Festung Europa!
Fangen wir vor Ort damit an!

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