Am 22.12 fanden sich erneut Menschen vor der Zentralen Unterbringungseinheit am Albersloher Weg in Münster ein um sich mit den Bewohner*innen des Lagers solidarisch zu erklären.
Unseren Redebeitrag gibt es hier zum Nachlesen:
Im vorweihnachtlichen Fernsehprogramm, ehe die alljährlichen Blockbuster und langen Filmabende beginnen, zeigen einige Nachrichtensendungen noch die Bilder, die jenen Science-Fiction-Thrillern und Katastrophenfilmen entnommen scheinen: Braune Brühe läuft beständig in zerlumpte Zelte, die keinen Boden haben, überschwemmt die kleinen Sandsäckchen, die sich die Bewohner*innen des von der Welt verratenen Camps organisieren konnten – und die ihnen doch keinen Schutz bieten. Kalter Wind und Regen nehmen zu, es kommt der Winter, in dem in den letzten Jahren in griechischen Lagern wie Moria dutzende Todesfälle, Suizidversuche und verzweifelte Hungerstreiks bestätigt wurden. In Kara Tepe, dem Nachfolgelager von Moria, in dem inzwischen siebeneinhalb Tausend Menschen verelenden, berichtet SOS-Kinderdörfer vom Ausgeliefertsein der Allerjüngsten: Babys werden nachts in durchnässten Zelten von Ratten gebissen. Vor wenigen Tagen wurde ein dreijähriges Mädchen bewusstlos und blutend in den Waschräumen aufgefunden, mutmaßlich vergewaltigt.
Zumindest die Bilder sind politisch
gewollt, denn jedes Zeugnis von Matsch,
Elend und Schlimmerem sendet ein Signal: Die Migration nach Europa ist ein Alptraum. Und so werden all die Verletzungen und Katastrophen mutwillig in Kauf genommen. Auf einem Kontinent, der sich die Verteidigung von Menschenrechten und Freiheit auf die Fahnen schreibt. Der allerdings zugleich, im Kontext seiner sogenannten Flüchtlingspolitik, ein internationales System von Lagern etabliert hat, wo Gewalt einen konstitutiven Sinn erfüllt.
Wenn wir heute vor einem solchen Lager stehen, dann begreifen wir sofort, dass es zu einfach wäre, mit dem Finger nur nach Griechenland zu zeigen. Denn das Prinzip, nach dem Menschen in zwei Klassen eingeteilt werden und wobei das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit der einen auf der Unterdrückung der anderen basiert – dieses rassistische Prinzip begegnet uns ja genau hier: Während die einen im winterlichen Lockdown und in der Sicherheit des social distancing eben jenes vorweihnachtliche Abendprogramm genießen dürfen, geschieht dies unter Verdrängung und auf Kosten der Menschen hinter dem Stacheldraht. Während für deutsche Bürger*innen Geld in einem nie gekannten Ausmaß mobilisiert wird, zugunsten von starken und richtigen Hygienemaßnahmen, gilt dies für ZUE-Bewohner*innen schlichtweg nicht – sie werden gezwungen, weiter in Mehrbettzimmern zu schlafen und sich die Sammelduschen und WCs zu teilen. Und während die allgemeine politische Maxime zurzeit lautet, Großveranstaltungen zu meiden, so sorgt dieselbe Politik zynisch dafür, dass in der ZUE jeden Tag Großveranstaltung ist. Denn unter dem „gut-deutschen“ Vorwand, die Kommunen zu entlasten, wurden hier noch zusätzliche Menschen einquartiert. In solch einem entrechtenden Lagersystem bringen also die Ratten oder das aggressive Virus die Krankheiten. Münster, das sich „Friedensstadt“ nennt, steht dem Europa der vermeintlichen Menschenrechte hier nicht nach. Als erstes kann es in dem Zusammenhang nur eine Gegen-Forderung geben: Wenn den vulnerablen Gruppen zum Beispiel durch eine Corona-Impfung zuerst geholfen wird, dann muss dies unter allen Umständen auch für die Verdrängten unserer ach so sauberen Gesellschaft gelten – neben Obdachlosen und Suchtkranken gilt dies in vollem Umfang auch für flüchtende Menschen.
In der ZUE Münster aber werden die Grundrechte, von denen dieser Tage so viel zu hören ist, schon seit langer Zeit gebrochen. Residenzpflicht, Beschäftigungsverbot, Aussetzung des Schulrechts für die Kinder, kein Zugang zum medizinisch-psychosozialen Angebot – was für eine jede Bürgerin der EU undenkbar ist, wird in dieser abgeschotteten Black Box Realität. Und der Anlass zu den Mahnwachen war ja, dass hier – in Konsequenz von alldem – der sogenannte Sachleistungszwang so ungeniert ausgenutzt wurde, dass die Polizei einzelne Menschen aus den langen Reihen der Dienstagsgeldausgabe herausfischte und in den nächsten Abschiebeflieger setzte.
Wenn wir damit den rassistischen Sinn und Zweck des Lagers anprangern, so vergessen wir allerdings nicht, dass sich die autoritäre Formierung von Entrechtung und Repression, von Abschreckung und Abschottung nicht allein von rechtsaußen speist. Nein, sie wird zugleich angeschoben aus dem neoliberalen Lager und es ist vielleicht der aalglatte Begriff des „integrierten Rückkehrmanagements“, der zuallererst für politische und juristische Legitimation sorgt. Im Kontext der ZUE sollten wir diesen Begriff verstehen und seine Bedingungen und Wirkweisen nicht vergessen.
Das integrierte Rückkehrmanagement wurde 2015 als politische Antwort auf die steigende Zahl Schutzsuchender entwickelt. Seitdem zielt es in Bund und Ländern darauf ab, die Asylentscheidung von der Ankunft der Menschen über die Fallberatung – und hier gibt es den Paradigmenwechsel hin zur Rückkehrberatung – bis zur angestrebten Ausreise örtlich und aktentechnisch zusammenzuführen, zu bürokratisieren und vor allem zu ent-individualisieren. Es gibt seitdem in Politik und Behörden diese Obsession, Menschen auch neben dem Mittel der Abschiebung von der Ausreise zu „überzeugen“, indem schon vor Erhalt der BAMF-Entscheidung in die laufenden Verfahren eingegriffen wird. Um den Prozess zu beschleunigen, schaltete die Bundesregierung das Lobbyunternehmen von McKinsey als Beratungsfirma ein, und wir zitieren hier einmal aus dem – Achtung – „Abschlussbericht über Rückkehrprozesse und Optimierungspotentiale“. Zitat: „Angesichts der Höhe der direkten Kosten wäre es aus fiskalischer Sicht von Vorteil, in die Rückführung […] von Ausreisepflichtigen zu investieren. […]. Gelingt es, den Aufenthalt eines Ausreisepflichtigen um zwei Monate zu verkürzen, sind die Kosten einer Rückführung bereist ausgeglichen“ (S. 10). Ohne nun die ganze Dimension vertiefen zu können, erkennen wir doch bereits schlaglichtartig die wechselseitige Ergänzung von Repression und wirtschaftlichem Interesse: So hat das integrierte Rückkehrmanagement den Menschenrechtsschutz buchstäblich verkauft. Er steht fortan unter dem Primat der ökonomischen Effizienz.
Derselben Logik folgend, wurde in diesem Zuge das Konstrukt der „Bleibeperspektive“ erfunden. So, wie es in der Geschäftswelt von McKinsey nur Gewinner und Verlierer in einem a-moralischen Sinne gibt, so wird seit 2015 von Flüchtenden mit „guter“ oder „schlechter“ Bleibeperspektive gesprochen. Kurz gesagt werden diejenigen, die aus Ländern kommen, für die eine „schlechte“ Bleibeperspektive unterstellt wird – und dies sind sämtliche Staaten dieser Erde, außer zwei –, proaktiv an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert. Dies geschieht etwa durch Ausschluss von Sprach- und Integrationsangeboten, aber auch durch die Unterbringung in Massenunterkünften. Wiederum wird hier rassistische Stigmatisierung und Diskriminierung produziert, denn die simple Zuordnung setzt sich im Alltagsverständnis als Unterscheidung vermeintlich „echter“ von „falschen Wirtschaftsflüchtlingen“ fort. All diese Verkürzungen und die Einteilung der Welt in schwarz und weiß verkennt, dass jeder Mensch, auch jeder fliehende Mensch eine eigene Geschichte besitzt. Eine Geschichte, die vielleicht auf einem Hintergrund von Not und Vertreibung, aber auch von Autonomie und kreativen Lösungswegen gründet. Kurz: eine individuelle, komplexe Biographie. In der neoliberalen Welt von McKinsey und im Populismus der deutschen Flüchtlingspolitik aber wird kalt nach Aktenlage entschieden und Flüchtenden wird letztlich das verfassungsmäßig garantierte Individualrecht auf Asyl verwehrt.
Ein letzter Baustein, den wir beleuchten möchten, ist dabei die schon angesprochene Rückkehrberatung, die insofern perfide funktioniert, als sie dem Ausreiseprozess durch finanzielle Anreize ein humanes Gesicht verleihen soll. Im Zuge der McKinsey-Studien sind Rückkehrberatungsstellen kontinuierlich gefördert worden: So gab es in NRW 2016 noch 17 solcher Stellen, die seitdem auf derzeit 60 angewachsen sind. Die tödliche Dimension des Rückkehrmanagements zeigt sich dabei vor allem, wenn wir auch aus aktuellem Anlass auf Syrien blicken. Denn selbst an das Assad-Regime und seine jahrzehntelange Tradition von Folter und industrialisierter Brutalität verkauft sich unsere Politik ja inzwischen in ihrem Abriegelungswahn. Es sind zwei Fälle bekannt, in denen syrische Geflüchtete bei der Ausreise in ihr Herkunftsland beraten und unterstützt wurden. Nun warnen internationale Medien und Hilfsorganisationen seit Jahren vor jeder Rückreise nach Syrien, wo Todeslisten mit drei Millionen Gesuchten existieren und von tausende Rückkehrer*innen berichtet wird, die direkt bei Ankunft inhaftiert und nie wieder gesehen wurden. Genau so geschah es auch bei den beiden Männern, denen deutsche Behörden die Ausreise anrieten. Medico International spricht von der deutschen „Starthilfe in den Tod“.
Und um nun auf die vorweihnachtliche Stimmung zurückzukommen, mag es einerseits seltsam anmuten, dass gerade die Partei mit dem großen „C“ im Namen auch federführend hinter dem Syrien-Abschiebestopp steht – einem der letzten und unchristlichsten Tabubrüche in der deutschen Asylpolitik. Andererseits ist es schlicht ein Zeichen ihrer heuchlerischen Konsequenz, wenn just die Pandemie-Zeit großer Verunsicherung als ablenkender Deckmantel benutzt wird, um die eigenen Werte weiter zu verschachern. Womit wir nicht auch Andere quer durch das Parteienspektrum vergessen möchten, die genauso kurzsichtig nur von einer Legislaturperiode zur nächsten blicken und sich im Wetteifern um billige Stimmen letztlich immer wieder unterbieten. Explizit sei auf die rot-grüne NRW-Regierung hingewiesen, die noch vor wenige Jahren den Startpunkt für die traurige Wahrheit lieferte, dass sich dieses Land mit einem besonders funktionalen Lagersystem seit jeher mit den bundesweit meisten Abschiebungen und so genannten „freiwilligen“ Ausreisen brüstet. Also egal, ob in Griechenland oder in Münster: Kämpfen wir gegen jede rassistisch und neoliberal entmenschlichende Logik! Gegen jedes Lager! Und gegen das Projekt der autoritären Formierung!
Quellen
• https://www.proasyl.de/news/albtraum-moria/
• https://www.proasyl.de/news/albtraum-moria/
• https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-Todesfaelle-in-Fluechtlingslagern-3609854.html
• https://www.sueddeutsche.de/meinung/fluechtlinge-seehofer-moria-1.5151273
• https://www.sos-kinderdoerfer.de/informieren/aktuelles/news/maedchen-vergewaltigung-lesbos-fluechtlingslager
• https://www.sueddeutsche.de/panorama/kara-tepe-moria-lesbos-fluechtlingslager-1.5153097
• https://www.jetzt.de/politik/kara-tepe-auf-lesbos-franziska-grillmeier-ueber-die-lage-der-gefluechteten
• https://www.bamf.de/SharedDocs/FAQ/DE/IntegrationskurseAsylbewerber/001-bleibeperspektive.html?nn=282388
• https://www.focus.de/politik/ausland/nach-militaerischen-erfolgen-in-syrien-assad-regime-erstellt-liste-mit-3-millionen-angeblichen-terrorismusunterstuetzern_id_9366087.html
• https://www.youtube.com/watch?v=F-mpfy93a5c
• http://www.hebammenhilfe-fuer-fluechtlinge.de/wp-content/uploads/2015/11/2015-Netzheft_FRnrw.pdf
• https://www.frnrw.de/images/In_eigener_Sache/Netzheft_2016/Netzheftonline2.pdf
• https://www.mobile-beratung-nrw.de/fileadmin/content/news/08-netzheft-aktuell%283%29.pdf
• https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/netzheft-aktuell.pdf
• https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/netzheft/Netzheft_2019.pdf
• https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/netzheft/Netzheft_2020.pdf
• https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/Asylpolitisches_Forum_2017/AG_2_Naujoks_Integriertes_Rueckkehrmanagement.pdf
• https://www.informer-online.de/2018/12/ueber-5-000-rueckfuehrungen-unter-polizeizwang-nrw-schiebt-bundesweit-die-meisten-asylbewerber-ab/
• https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/nrw-verbessert-sein-rueckkehrmanagement-weiter
• https://www.diakonie-rwl.de/themen/festrede-cafe-international
• https://www.einwanderer.net/fileadmin/downloads/tabellen_und_uebersichten/bleibeperspektive.pdf
• https://fluechtlingsrat-bw.de/informationen-ansicht/bayern-konzentriert-balkan-fluechtlinge-in-sonderlagern.html
• https://www.medico.de/blog/starthilfe-in-den-tod-17309/
• https://www.washingtonpost.com/gdpr-consent/?destination=%2fworld%2fassad-urged-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation%2f2019%2f06%2f02%2f54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html%3futm_term%3d.6a412dcd11f0&utm_term=.0e972f7db854